oder
die „Die Drei-Burgen“-Fahrt
Im Prolog starten wir vorab mit grammatischer Technik.
Der Autor dieser Zeilen hat beschlossen, die Erzählung mit Blick auf die dramatischen Ereignisse unserer Tour in der historischen Präsenz zu verfassen.
Vorab: Die samstäglichen Touren der Solmsbachtal-Radgruppe sind sine tempore-Veranstaltungen – das akademische Viertel hat sich hier nicht durchsetzen können.
So war die Gruppe mit Silke, Evelyn, Bernd, Michael und Ralf pünktlich um 13:00h an der Oberdorfer Hütte zum Start versammelt.
Michael stellt die Strecke als „Barig-Selbenhausen“-Tour vor.
Anschlussdiskussionen über Alternativen bleiben vollständig aus.
Die Ausfahrt startet. Bei Außentemperaturen von etwas 14 Grad, einem Wechselhimmel aus Blau mit aufgetürmten Blumenkohlwolken bei mit Böen auffrischendem Wind rolliert die Gruppe durch das Lahntal: Lahnbahnhof, Tiefenbach, Stockhausen, über die Kamelbuckel der alten Straße von Biskirchen nach Löhnberg.
Die Passage führt über das Gelände der Firma Rathschlag auf die L 3453.
Über eine sanft ansteigende Talauffahrt passieren wir eine Location mit dem etwas hochgegriffenen Namen Big Sky Ranch nach Barig-Selbenhausen, dem Namensgeber der Tour.
Am Ortsende sind unsere Augen auf die erste Burg dieser Trainingsausfahrt gerichtet, der Burg Merenberg.
Beim Blicken schieben sich die Köpfe in den Nacken, die Burg thront auf einer imposanten Anhöhe.
In die flüchtigen Gedanken der ästhetischen Anschauung des historischen Landschaftsobjektes mischen sich Befürchtungen – der weitere Streckenverlauf führt genau dort oben hin.
Wir biegen links ab auf die L 3370 nach Merenberg. Im schönen Gefühl des jetzt abschüssigen Rollens türmt sie sich vor uns auf: eine kerzengerade Straße mit Anstiegsgraden bis neun Prozent, als vertikales Brett in die Landschaft genagelt.
Wie eine drohende Wächterfigur steht sie dort, als rufe sie Warnungen an die Komfortzonen angenehmer und leichter Gefühle der sich nähernden Radsportler aus, und erinnert nebenbei an den sich in den kommenden zehn Minuten sicher meldenden inneren Schweinehund – sorry, auch in diesem Blog bleiben wir sprachlich korrekt: ...und Schweinehündin.
Der Aufstieg beginnt, jeder ist mit sich selbst beschäftigt, pedaliert in seinem Rhythmus. Am Ende des schanzenartigen Anstieges weicht die gerade Steigung in abwechslungsreichere Kurven bei unvermindertem Schwierigkeitsgrad bis zur Ortsmitte in Merenberg auf.
Hier sammelt sich die Gruppe und Ralf entscheidet sich, in Abgrenzung zu den letzten Ausfahrten, als er nach dreißig Kilometer die Gruppe formbedingt verlassen hat, die Tour mit der Gruppe zu beenden.
Ein essenzielles Argument für diese Entscheidung liefert Michael mit der Aussage, ab jetzt gehe es nur noch bergab auf teils wunderschönen Abfahrten nach Odersbach, an den Gestaden der Lahn.
Nun ist Michael ein grundseriöser Mann. Menschen glauben ihm, so auch Ralf.
Mit diesem guten Gefühl und dem zusichernden Glauben an seine gute Abfahrtstechnik, die er sich in den unzähligen Trainingseinheiten auf dem Cross-Rad angeeignet hat, startet Ralf in das letzte Drittel der Strecke mit Tempo.
Blöderweise zählen Gegenanstiege von dreihundert bis fünfhundert Metern mit Steigungsgraden bis zu sieben Prozent bei Michael noch zur Kategorie der reinen Abfahrt. Motiviert und ein wenig unbesorgt nimmt Ralf die Wellen und lässt anfänglich noch unbemerkt Korn um Korn auf der Straße liegen.
Probleme anderer Art beschäftigen zu dieser Zeit Bernd.
Seine futuristische Straßenmaschine weist auffällige Parallelen zum Bild eines nervösen Rennpferdes auf – ästhetisch anmutend, aber irgendwie anfällig.
Das Schaltwerk seines Rades wird elektronisch gesteuert.
Dem Vernehmen Bernds gemäß muss das individuelle Gefühl beim Schalten weich, perfekt und technisch sehr einfach sein.
Dieses Bild im Kleinen entspricht der generellen Beschreibung des Digitalen im Großen.
Nur – etwas, dass es schon seit hundertfünfzig Jahren gibt: die Elektrizität – wird dabei etwas unterschätzt.
Was wird aus der Digitalität, wenn der Strom ausfällt? Bernd hatte es versäumt, den Akku für das Schaltwerk an der Steckdose aufzuladen.
Das sollte sich rächen. Die kleine Unterlassung hatte Folgen in Gestalt einer Zeitmaschine, die ihn direkt in das Mittelalter der Technik im Radsport katapultierte:
In die Welt der so genannten „starren“ Nabe. Also nur einen Gang – das soll Kraft geben, aber wie steht es um die Souplesse?
Bernd muss sich für einen Gang entscheiden. Da er, wie Ralf, an die jetzt beginnende Abfahrt glaubt, wählt er eine „große“ Scheibe. Das macht ihm auch großen Spaß, bis zur ersten Gegensteigung. Mit hoher Geschwindigkeit steuert er in den Anstieg, dessen Steigung seine Geschwindigkeit in wenigen Augenblicken auf Schrittgewindigkeit herunterreguliert.
Was nun folgt, ist ein Vorgang, der von den mitfahrenden BeobachterInnen zwischen Bewunderung und Mitleid verortet wird.
Weit über den Lenker gebeugt, die Hände umklammern eisern die Bremsgriffe, und mit einer einstelligen Trittfrequenz in der Minute scheint er den Rahmen zu verbiegen.
Auf dem Wellenkamm angekommen weicht sichtbar die Anspannung aus seinen Bewegungen.
Schierer Wille und bloße Kraft speisen die Energien für diese besondere Leistung ein.
Inzwischen hat sich der Himmel mit Grau verdichtet und die ersten Tropfen betupfen die Helme.
Auf dem Weg nach Odersbach verstärkt sich der Niederschlag. Auf der regennassen Straße der Abfahrt, die nun wirklich von Gegenanstiegen befreit ist, sind Konzentration und Wachsamkeit gefragt.
Am Ende der Abfahrt in Odersbach verabschiedet sich Bernd aus der Gruppe. Verständlich – mit dem sehr eingeschränkten Getriebe macht es keinen Spaß.
Silke ist sichtbar ungehalten. Sie fühlt sich bei Sonne und Wärmegraden am wohlsten.
Ganz passend zu Ihrem Fahrstil: Der gestreckte Rumpf bildet eine Parallele zum Oberrohr, die wirbelnden Beine bewegen scheinbar kraftlos das Rad, der ruhende Oberkörper stabilisiert die Bewegungsdynamik.
So kreiert Silke eine Eleganz auf dem Rad, die ebenso ästhetisch wie stilprägend ist.
Jetzt aber, vom Regen durchnässt und von der Kühle durchfroren, ist sie richtig angefressen.
An den Ufern der Lahn bewegen wir uns auf dem Radweg in Richtung Weiltal, vorbei an der Burg Freienfels, der zweiten bei dieser Ausfahrt.
In kühle Nordecken eingepfercht schlängelt sich der Radweg zur letzten Prüfung dieses Tages: der Anstieg über Edelsberg zum „Braunfelser Kreisel“.
Noch steuern wir die Räder auf horizontalem Grund, teils über nasse Teppiche von Schichten gefallenen Laubes der Bäume, die den Radweg säumen.
Wir kreuzen die L 3025 und befinden uns an der Einfahrt zur finalen Steigung.
Das kleine Peloton reißt schnell auseinander.
Noch im Bereich der Hauptstraße in Edelsberg ist vom l'arrière du peloton, dem Ende des Feldes, die Spitze nur noch unscharf und bereits weit entfernt als schwankender gelber Punkt zu erkennen.
Es ist Evelyn mit der gelben Regenjacke, die im Wiegetritt ihr Basso-Rad über den nassen Asphalt schiebt und dabei wie ein perpetuum mobile wirkt.
Am Ende des Feldes geschehen andere Dinge.
Ein im Radsport gefürchtetes Wesen nähert sich Ralf bedrohlich nahe, der „Mann mit dem Hammer“.
Die gefährliche Mischung aus Substanzverlust aus den letzten Gegensteigungen, den inzwischen kühlen Temperaturen und der aufgeschobenen Pause mit Kaffee, Nusskringel und Streuselteilchen hat sich zu einem veritablen Hungerast entwickelt.
Die Geschwindigkeit sinkt, der stoische Blick ist auf einen Punkt zweimeterfünfzig vor ihm auf die Straße geheftet, das Rollgefühl seines Rades erscheint ihm, als führe er auf einer Sandfläche.
Silke überholt Ralf in ihrem sicheren Rhythmus am Ortsende von Edelsberg.
Er kann das Hinterrad Silkes nicht halten, schaut kurz nach oben, und erkennt ein dunkles Wolkenschiff mit schwarzen Segeln, das über der Waldfläche zwischen der Bundesstraße 456 und Braunfels aus dem breiigen Grau stößt.
Plötzlich, auf halber Strecke der Steigung ist Ralf neben seinem Rad stehend, tief über den Lenker gebeugt, und atmet, und scheint zu meditieren, sich zu sammeln – so steht er da am Straßenrand.
Autos passieren und die Blicke der Insassen erfassen ihn.
Nach zwei Minuten fährt er weiter, der Rest der Gruppe wartet am Waldrand unterhalb des Kreisels. Fürsorgliche Aufmunterungen von Silke, Evelyn und Michael empfangen ihn.
Der „Mann mit dem Hammer“ ist zunächst abgeschüttelt, der „Geist dieser wunderbaren Radsportgruppe“ ist stärker und belebt seine Willensstärke.
Eine, wo auch immer herkommende Energie, speist Ralf Kraft ein und trägt ihn bis zum Kreisel. Vorne hüpft wieder der gelbe Punkt.
Im Übrigen: Die Wetter-Leistung-Verknüpfung scheint sich bei Evelyn geradezu reziprok zu den anderen in der Gruppe zu verhalten:
Umso grauseliger die Wetterbedingungen sind, desto stärker scheint sie auf dem Rad zu performen.
Die schwarze Wolke entleert sich, der tiefhängende Himmel senkt sich auf die Spitzen des Waldes auf der Höhe der Lebenshilfe Florentine.
Der Regen pickt gleichförmig kleine Löcher in den Wasserfilm, der sich in den Spurrillen der Straße gebildet hat.
Ein Regenbogen durchschneidet den Regendunst, als wir von Bermbach abfahrend in Philippstein wie von einem bunten Rundportal empfangen werden.
Im strömenden Regen befinden wir uns auf dem Weg nach Braunfels.
Noch wenige Kilometer bis zum Teufelslappen („Diesen in Radsportkreisen ikonografischen Begriff leiht sich der Autor dieser Zeilen aus dem reichen Sprachfundus des von ihm verehrten ARD-Radsportkommentators Herbert Watterott“), also der flamme rouge, der „roten Flamme“ als Streckenmarkierung des letzten Tourkilometers in Form eines über der Straße aufgehängten roten Wimpels.
Das kleine Peloton ist komplett und fährt in einer Linie.
Wie Schweife hängen die gebogenen Fontänen des Spritzwassers an den Hinterrädern.
Die Zinnen der dritten Burg, dem Schloss Braunfels, sind nur schemenhaft im Regennebel zu erkennen.
Der kleine Anstieg in St. Georgen, die kurze Kuppe der Berliner Straße auf der Höhe der Abzweigung zum Schloss. Geschenkt.
Wir rollen zum Bäcker Schäfer, wie wir das zum Backimperium mit über hundert Filialen angewachsene Unternehmen noch romantisch verklärt nennen.
Müde, aber jetzt rechtschaffen stolz, glücklich und kaffeedurstig tragen wir die Tablette mit dem duftenden Kaffee und Gebäck auf dem Weg zu unserem Platz, vorne rechts neben der Tür, wie Monstranzen vor uns her.
Und plötzlich ist es ganz still. Hände umfassen die großen Kaffeetassen, die Blicke sammeln sich unbewusst in der Mitte des Tisches, die Aufmerksamkeit hat sich vom Außen ins Innere verlegt.
Es ist, als würden wir den Weg des heißen Kaffees auf dem Weg durch unsere Körper bis hin zur Mitte begleiten und dann umgekehrt, die thermische Entfaltung bis in die äußeren, noch kühlen Körperschalen als intensive Wohlfühlerfahrung erleben.
So zeigt dieser späte Samstagnachmittag nach knapp über sechzig fordernden Kilometern mit knapp achthundert Höhenmetern
noch ein anderes, ein seltenes Gesicht des Radsports: ein sinnliches. (Ralf)