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Under construction

 

Baustellen und Absperrungen durchpflügen Deutschland, auch die mittelhessische Region unserer Radsportgruppe. AutofahrerInnen ächzen ob der damit verbundenen Staus. Das temporäre Ausweichen auf das Rad ist eine störungsfreie Option. Oder muss dies etwa neu gelesen werden?

 

 

„Wie heißt der Bauminister von China?“, so fragten Humorkapitalisten der Boomer-Generation gerne MitschülerInnen ihrer Quinta- oder Förderstufenklasse und blickten dabei in entwaffnete Gesichter. Na, wie? „Um-Lei-Dung“ - Ein Brüller seinerzeit! Nun ja - die Zeiten ändern sich. Und der Witz zieht heute auch nicht mehr so sehr. In China werden neue Städte in drei Jahren gebaut und im Land der Teutonen haben Schilderflächen mit Ein-Wort-Botschaften wie „Gesperrt“ und - natürlich!- „Umleitung“ Hochkonjunktur. Der kurze erzählerische Prolog verweist auf den Kern der folgenden Geschichte und deren Einfluss auf eine Trainingsausfahrt von ambitionierten Radsportlern.

 

Am Vormittag des 30. August 2025 treffen sich Evelyn, Michael und Ralf zur längst etablierten Samstagsausfahrt. Die kleine, motivierte Gruppe tauscht sich, wie es das Protokoll vorsieht, über die Länge, Oberflächenbeschaffenheit und den Zeitaufwand für die zu fahrende Strecke aus. Über uns weitet sich ein blauer Himmel, der immer mehr Wolkengebilde zulässt, die das Sonnenlicht allenfalls in Portionen entfaltet. Ein, um diese Zeit noch frischer Wind, streicht über die von vielen Trainingsfahrten des Sommers gebräunte Haut unserer Arme und Beine, — ein leiser Vorbote des nahenden Herbstes? 

 

Die Wahl fällt auf eine zunächst flache Tour über Wetzlar, die Auen der Lahn entlang bis zum Dutenhofener See. Von dort folgen wir einer zum Ritual der Gruppe gewordenen Strecke über Allendorf bei Gießen, Lützellinden, Großen-Linden in das Hüttenberger Land und von dort in das bekannte hügelige Terrain des beginnenden Cleeberger Landes - so nennen wir es jetzt einfach, diesen schönen Teil Mittelhessens. Von dort führt uns die kupierte Strecke ins Solmsbachtal, dem Namensgeber unseres kleinen Rad-Clubs.

 

Aber der Reihe nach. Wir sind ja noch gar nicht gestartet. Die Idee ist, über Oberbiel, unterhalb des Klosters Altenberg zum Dillfeld in Wetzlar zu fahren, um von dort über Niedergirmes in die Lahnauen zu gelangen.  Also los! Ralf übernimmt zunächst den Lead. Noch bevor wir die erste Baustelle an der Gesamtschule in Burgsolms erreichen, — die Asphaltdecke der Straße zwischen der Schule und dem Sportplatz ist verschwunden, der Untergrund sieht mehrfach umgegraben aus —, fällt Ralf beim Anblick dieser Infrastruktur-Baumaßnahme auf, dass es am Ortsende von Oberbiel genau-so aussieht. Ein Krater spannt sich rombusförmig auf, von Bauabsperrungen eingehaust, die bis in die benachbarten Gartenzäune ragen. Kein Durchkommen. Strecke umplanen. Jetzt also über Albshausen und Steindorf über die Braunfelser Straße zur Bachweide in Wetzlar. 

 

Ralf führt die Gruppe. Auf der Höhe des Elektrofachgeschäftes Expert Klein bremst er ab, weist ein stadteinwärts fahrendes Auto mit einer Armbewegung, die wir von Schülerlotsen kennen, an, das Tempo zu reduzieren und die hinter ihm fahrende Restgruppe passieren zu lassen. Ralf kennt dieses, auf das Radfahren bezogene, selbstbestimmte Verhalten von vielen Ausfahrten mit Radsportfreunden in den Niederlanden. Dort ist diese Geste ein Signum, das an den Grundfesten des Machtverhältnisses zwischen auto- und radfahrenden VerkehrsteilnehmerInnen rüttelt. Mit Erfolg. Die Erstgenannten wissen in den Niederlanden in ausgewiesenen Bereichen des geregelten Verkehrs um ihre Rolle: Einfach mal die Nummer Zwei zu sein. Evelyn und Michael erkennen die Armbewegung erst später und fahren weiter; Ralf nimmt die parallel verlaufende Siegmund-Hiepe Straße, um sich mit den beiden am kleinen Park an der Brücke über den Wetzbach wieder zu vereinen. Wir passieren die Radfahrerbrücken an der Stelle der Zusammenflüsse von Lahn und Dill und queren die Altenberger Straße. Mit der gebotenen Vorsicht vor der möglichen Unvorsichtigkeit nahender Radfahrer klingelt Ralf vor einer 90-Grad-Linkskurve, deren linker Rand mit Büschen überwuchert ist, und richtet seine Konzentration auf den Radweg aus. „Frei!“, schallt sein Ruf für eine entschärfte und sichere Passage. Dabei entgeht ihm ein am rechten Rand des Radweges aufgestelltes Schild. Fünfzig weitere Meter ruft jetzt Evelyn: „Hast Du das Schild gesehen? Der Bahnübergang am früheren Poco ist gesperrt!“ Verdammt nein, denkt Ralf und regt die sofortige Umkehr durch das Bannviertel in Wetzlar an, über die Bahnhofstraße zum Lahn-Radweg in Richtung Naunheim. 

 

Die Nivellierung der über Jahrzehnte vernachlässigten Infrastruktur in unserem Land, zieht ihre Kreise der Irrungen und (Ver-)Wirrungen bauplanerischen Handelns selbst durch die vertrauten und teils lieb gewonnenen Routen des lokalen Radsports. Hier hilft nach vorne gerichtetes Denken. Ralf bedient sich dieser positiven Affirmation und lenkt seine Erinnerungen in die frühen Achtzigerjahre, an das Poco. Eine Kultdisco, erinnern sich die einen, andere sehen eine Schwundstufe dessen, was irgendwann mit der Bezeichnung Gebäude begonnen hat. Alles richtig, keine Frage. Eines bleibt indes unbestritten: Für die in der Anmoderation des Textes beschriebenen Boomer, ist es ein Soundtrack ihrer Jugend und jungen Erwachsenenseins, der Studentenzeit und durchgefeierten Nächte, Stichwort: „Vier-Tage-Nonstop-Poco-Fasching“. Tempi passati.

 

Jetzt rollt es an der Lahn entlang bis zur Naunheimer Mühle. Ein schöner Ort, - auch hier: Keine Frage. Aber wieso lehnen Geländerteile mit rot-weißem Diagonalmuster an der Hecke? Und warum ist das sonst weiße Schild des Lahntal-Radweges „R 7“ jetzt gelb, – weshalb ist darüber ein „U“? 

An dieser Stelle übernimmt Evelyn den Lead. Sie kennt die Strecke von regelmäßigen Ausfahrten nach Gießen. Wir fahren ein Stück Landstraße in Richtung Waldgirmes. Zur rechten türmen sich dünenartig Schichten von Erde, Split und -vom Starkregen der letzten Tage aufgestauter, jetzt getrockneter- Schlamm. Auf den Erddünen sind Flurförderfahrzeuge und schweres Gerät geparkt. Eine Baggerschaufel ist angehoben, die dreckverschmierten Zähne ragen in die klare Luft des späten Vormittags. Der Radweg ist eine Geröllwüste, hermetisch abgeriegelt und die Bauarbeiten sollten nach den Sommerferien eigentlich beendet sein. An der Stelle sei gewarnt – Vorsicht Latein(!): „Aequam memento rebus in arduis servare mentem“, will sagen, in schwierigen Lagen, einfach den Gleichmut bewahren.

 

Evelyn erweist sich als erfahrene Lotsin und führt uns wieder auf den Lahn-Radweg, so dass wir mit der Unterstützung eines aufböenden Rückenwindes aus südwestlicher Richtung mit schneller Fahrt rasch die Ufer des Dutenhofener Sees erreichen. Nach der Passage des Eisenbahn-Viaduktes rollen unsere Räder in Richtung Allendorf bei Gießen. Die erfahrenen Mitglieder unseres kleinen, wie feinen Rad-Clubs werden die folgenden Streckenabschnitte sehr gut kennen. Würden die ausgewählten Strecken unserer samstäglichen Touren in einem „Best-Of“-Katalog gelistet, wäre diese auf den vorderen Plätzen zu finden – so gerne, so oft wird sie gefahren. 

 

Durch das Umland Gießens mit den Orten Lützellinden, Großen-Linden; dem Hüttenberger Land mit den Gemeinden Hörnsheim, Hochelheim und Dornholzhausen; den Orten des ehemaligen Gemeindegebildes Kleenheim mit den Ortschaften Nieder- und Oberkleen. Eine erneute kommunale Umstrukturierung entzieht die in Kleenheim vereinten Ortschaften dem Landkreis Wetzlar und verortet sie mit der Eingemeindung zu Langgöns dem Landkreis Gießen. Diese „Super-Einzelleistung“ kommunaler Neugliederung datiert zum 01. Januar 1977.

 

In Oberkleen stehen die Räder kurz still. Uhrenvergleich. Es ist kurz vor 12:00h. Ralf möchte um 13:00h zuhause sein, und: Er sympathisiert mit der Topographie der sanften, bewaldeten Hügel des Napoleostocks zwischen Oberkleen und Oberwetz, mit seinen weiten wie tiefen Panoramen. Die sich inzwischen durch die Wolken bahnbrechende Sonne lädt dazu ein.

 

Evelyn und Michael sammeln noch einige zusätzliche Kilometer und befahren den Radweg über Cleeberg nach Espa. Von dort rollen sie dann durch das Solmsbachtal zum Ausgangspunkt zurück. Ralf genießt seine letzten knapp fünfundzwanzig Kilometer durch das wunderschöne Trainingsterrain des Schöffengrundes und des Solmsbachtales und den Café Creme mit einem Streuselteilchen bei Bäcker Schäfer in Burgsolms.

 

Als Tourdaten wählen wir die „Evelyn & Michael“-Strecke mit 83 Kilometern und 560 Höhenmetern.

 

So endet diese Ausfahrt nicht als Odyssee, aber in Teilen als unfreiwillige Wirrfahrt. Wenn es überhaupt eine conclusio geben sollte, ist es eine Erkenntnis, die sich so lesen lässt: 

 

Unsere Radgruppe reagiert auf Berge, die sich ihr in den Weg stellen, in dem sie sie erklimmt; Hindernisse, die sich vor ihr aufbauen, umfährt sie — weil wir Optionen haben: Und ein Stau ist keine.     (Ralf)